VITAMIN D GEGEN COVID-19?
Die für Vitamin D beanspruchten Indikationen nehmen seit Jahren zu (vgl. a-t 2014; 45: 22-3, 2018; 49: 94-5 und 103 u.a.). Nun wird das Vitamin auch zur Prävention und Behandlung von SARS-CoV-2-Infektionen und schweren Verläufen von COVID-19 propagiert.z.B. 1 Hintergrund sind einerseits überwiegend kleine Beobachtungsstudien, die mögliche Zusammenhänge zwischen der Höhe des Vitamin-D-Spiegels und COVID-19 untersuchen. Sie beschreiben zwar mehrheitlich Assoziationen zwischen niedrigen Spiegeln und häufigeren SARS-CoV-2-Infektionen, schwereren Verläufen oder erhöhter Mortalität,z.B. 2,3 kommen jedoch per se aufgrund ihres Studiendesigns nicht als Nutzenbelege infrage. Andererseits werden randomisierte Untersuchungen angeführt, nach denen Vitamin D das Risiko für akute Atemwegsinfektionen senken soll. 2017 beurteilten wir die Evidenz zu dieser Frage anhand einer großen Metaanalyse4 individueller Patientendaten jedoch allenfalls als hypothesengenerierend (a-t 2017; 48: 30). Ein aktuelles Review5 des britischen Scientific Advisory Committee on Nutrition (SACN), das auch fünf neuere Plazebovergleichez.B. 6 berücksichtigt, findet dazu ebenfalls keine hinreichenden Belege für einen Nutzen in der Allgemeinbevölkerung. Ohnehin sind die Daten nicht zwangsläufig auf SARS-CoV-2-Infektionen übertragbar.5
Wir finden insgesamt drei publizierte randomisierte Untersuchungen speziell zu Vitamin D bei COVID-19: Eine missverständlich sowohl als „offen“ und gleichzeitig „double-masked“ bezeichnete spanische Pilotstudie7 schließt 76 hospitalisierte Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion ein, die eingangs nicht intensivmedizinisch behandelt werden. Sie erhalten die nach Angaben der Autoren zum Zeitpunkt der Studie „beste verfügbare Therapie“, darunter Azithromycin (ZITHROMAX, Generika) und Hydroxychloroquin (QUENSYL, Generika), das sich inzwischen als nutzlos erwiesen hat (e a-t 6/2020c u.a.). Zwei Drittel der Patienten nehmen zusätzlich das Vitamin-D-Derivat Calcifediol (DEDROGYL) ein.* Der Effekt ist ungewöhnlich groß: 1 von 50 Patienten (2%) unter Vitamin D versus 13 von 26 (50%) in der Kontrollgruppe müssen auf die Intensivstation aufgenommen werden (primärer Endpunkt).7 Allerdings besteht ein hohes Verzerrungsrisiko, unter anderem da in der Kontrollgruppe mehr Patienten (48% versus 62%) mindestens einen Risikofaktor für einen schweren Verlauf wie Diabetes und Hypertonie haben und bei fehlender Anwendung eines Plazebos die Entscheidung zur Intensivbehandlung in Kenntnis der Zuordnung zu den Studienarmen erfolgt sein dürfte. Als Nutzenbeleg eignet sich die Studie zudem auch wegen ihrer geringen Größe ohnehin nicht.
* | Am Aufnahmetag 0,532 mg, gefolgt von 0,266 mg an den Tagen 3 und 7 sowie anschließend wöchentlich bis zur Entlassung oder Verlegung auf die Intensivstation. |
Eine plazebokontrollierte indische Studie8 an 40 SARS-CoV-2-Infizierten mit milden oder fehlenden Symptomen und gleichzeitig niedrigen Vitamin-D-Spiegeln (< 20 ng/ml 25-Hydroxycholecalciferol [25(OH)D]) untersucht primär den Anteil der Patienten, bei denen nach drei Wochen per PCR keine Virus-RNA im Rachenabstrich mehr nachweisbar ist. Hier schneidet hochdosiertes Vitamin D3 (einmal täglich 60.000 I.E. per os für 7 bis 14 Tage**) als Zusatz zur Standardbehandlung besser ab (63% vs. 21%).8 Die klinische Relevanz des untersuchten Surrogatparameters ist jedoch unklar (vgl. e a-t 4/2020b). Angaben zur Verblindung fehlen.
** | Patienten mit einem 25(OH)D-Spiegel > 50 ng/ml nach 7 Tagen erhalten anschließend 60.000 I.E. wöchentlich, Patienten mit niedrigerem Spiegel 60.000 I.E. einmal täglich für 7 weitere Tage. |
In einer soeben als Preprint publizierten plazebokontrollierten Doppelblindstudie9 aus Brasilien mit 240 eingangs nicht intensivmedizinisch behandelten, schwer an COVID-19 Erkrankten beeinflussen einmalig 200.000 I.E Vitamin D3 per os weder die Länge des Krankenhausaufenthaltes (primärer Endpunkt) noch die Mortalität sowie die Notwendigkeit einer Intensivbehandlung oder künstlichen Beatmung signifikant.
Wir sehen derzeit keine hinreichenden Nutzenbelege für Vitamin D oder Vitamin-D-Derivate zur Prophylaxe oder Behandlung einer SARS-CoV-2-Infektion.
(R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse) | ||
1 | BENSKIN, L.L.: Front. Public Health 2020; 8: 513 (25 Seiten) | |
2 | ABRISHAMI, A. et al.: Eur. J. Nutr.; online publ. am 30. Okt. 2020, doi: 10.1007/s00394-020-02411-0 (9 Seiten) | |
3 | KAUFMAN, H.W. et al.: PLOS One 2020; 15: e0239252 (10 Seiten) | |
M | 4 | MARTINEAU, A.R. et al.: BMJ 2017; 356: i6583 (17 Seiten) |
5 | Scientific Advisory Committee on Nutrition (SACN): Rapid Review: Vitamin D and acute respiratory tract infections, Juni 2020; http://www.a-turl.de/?k=elve | |
R | 6 | CAMARGO, C.A. et al.: Clin. Infect. Dis. 2020; 71: 311-7 |
R | 7 | ENTRENAS CASTILLO, M. et al.: J. Steroid Biochem. Mol. Biol. 2020; 203: 105751 (6 Seiten) |
R | 8 | RASTOGI, A. et al.: Postgrad. Med. J.; online publ. am 12. Nov. 2020, doi: 10.1136/postgradmedj-2020-139065 (4 Seiten) |
9 | MURAI, I.H. et al.: medRXIV, online publ. am 17. Nov. 2020; https://doi.org/10.1101/2020.11.16.20232397 (34 Seiten) |
© 2020 arznei-telegramm, publiziert am 20. November 2020
Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten
Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ist nur mit Genehmigung des arznei-telegramm® gestattet.