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Therapiekritik

ACCORD-STUDIE: ERGEBNISSE ZU MIKROVASKULÄREN EFFEKTEN PUBLIZIERT

Zwei Jahre nach dem vorzeitigen Stopp des Blutzuckerarms der ACCORD*-Studie bei Typ-2-Diabetes wegen erhöhter Sterblichkeit unter der normnahen Einstellung werden jetzt auch die Ergebnisse zu mikrovaskulären Effekten veröffentlicht. Die Patienten unter intensiver Blutzuckereinstellung wurden auf Standardtherapie umgestellt und weiter nachbeobachtet. Die im faktoriellen Design (a-t 2008; 39: 119) ebenfalls geprüften intensiven Strategien zur Blutdruck- und Lipidsenkung wurden fortgesetzt und wie geplant abgeschlossen (ACCORD-BP*- und ACCORD-Lipid-Studie). Keine der drei intensiven Strategien hat einen günstigen Einfluss auf den primären Endpunkt, der Herzinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulär bedingten Tod umfasst (vgl. a-t 2008; 39: 18-9 und 73-6 sowie 2010; 41: 35-7). Effekte auf mikrovaskuläre Folgeschäden des Diabetes gehören zu den sekundären Endpunkten in ACCORD. Vorrangiger mikrovaskulärer Endpunkt ist dabei der in einer Subgruppe von Patienten geprüfte Einfluss der intensiven Strategien auf die Entwicklung oder Progression einer diabetischen Retinopathie, definiert als Fortschreiten um mindestens drei Stufen auf einer modifizierten ETDRS**-Skala oder Entwicklung einer proliferativen Retinopathie, die Laserkoagulation oder Glaskörperentfernung erfordert ("ACCORD-Eye-Studie").2,3 Für die gesamte Studiengruppe ist in erster Linie ein Kombinationsendpunkt aus Nierenversagen, Laserkoagulation der Retina oder Glaskörperentfernung vorgesehen, der sich an einen der mikrovaskulären Endpunkte der UKPDS* anlehnt.1,3

Patienten, die wegen proliferativer Erkrankung bereits mit Laserkoagulation oder Vitrektomie vorbehandelt sind, sind von der ACCORD-Eye-Studie ausgeschlossen. Von den insgesamt 10.251 ACCORD-Patienten, die im Mittel 62 Jahre alt sind und deren Diabetes im Median seit zehn Jahren bekannt ist, nehmen 3.537 an der Substudie teil. Sie werden eingangs und nach vier Jahren eingehend ophthalmologisch untersucht, einschließlich bildlicher Darstellung des Augenhintergrunds (Fundusfotografie). Von 2.856 Patienten (81%) liegen auswertbare Befunde vor. Bei etwa der Hälfte besteht eine diabetische Retinopathie bereits zu Studienbeginn. Unter normnaher Blutzuckereinstellung wird nach vier Jahren bei 7,3% der Patienten Neuentwicklung oder Fortschreiten der Erkrankung diagnostiziert und damit signifikant seltener als unter Standardbehandlung (10,4%; Number needed to treat [NNT] = 32). Ähnliches gilt für die intensivierte Lipidtherapie: Unter Fenofibrat (LIPIDIL TER, Generika) plus Simvastatin (ZOCOR, Generika) wird der Retinopathieendpunkt mit 6,5% signifikant seltener erreicht als unter Simvastatin allein (10,2%; NNT = 27). Dagegen kommt unter intensivierter Blutdruckbehandlung eine (fortschreitende) Retinopathie numerisch häufiger vor als unter standardgemäßer Blutdruckbehandlung (10,4% vs. 8,8%).2

Für den harten mikrovaskulären Kombinationsendpunkt in der Gesamtgruppe der ACCORD-Studie zeigt sich unter normnaher Blutzuckereinstellung weder zum Zeitpunkt des vorzeitigen Stopps (nach 3,7 Jahren; 8,7% vs. 8,7%) noch bei Studienende (nach 5 Jahren; 10,9% vs. 11,5%) ein Effekt. Auch Laserkoagulation oder Vitrektomie einerseits (9% vs. 9,2%)**** und terminale Niereninsuffizienz andererseits (2,7% vs. 3,0%) bleiben unbeeinflusst, ebenso schwerer Visusverlust (Visus < 0,1; 8,1% vs. 8,1%). Nominell signifikante Effekte ergeben sich bei Studienende im Hinblick auf Mikro- (22,2% vs. 25,3%) und Makroalbuminurie (4,4% vs. 6,1%), Kataraktoperationen (14,2% vs. 15,7%), mäßige Visusverschlechterung (19,1% vs. 20,7%) und drei von vier durchgeführten Tests auf diabetische Neuropathie.1

Die Ergebnisse der ACCORD-Eye-Studie, die im Einklang stehen mit denen der DCCT* bei Typ-1-Diabetes4 sowie der Kumamoto*- und der UKPDS-Studie bei Typ-2-Diabetes,5,6 sprechen dafür, dass die normnahe Blutzuckereinstellung auch bei fortgeschrittenem Typ-2-Diabetes das Retinopathierisiko günstig beeinflussen kann. Ob dies längerfristig einen Schutz vor Erblindung bedeutet, ist offen. Schwerer Visusverlust, der im höheren Alter zunehmend auch durch nichtdiabetische Erkrankungen verursacht wird, wird in ACCORD nicht beeinflusst. Auch in den beiden anderen Studien zur intensiven Blutzuckereinstellung bei fortgeschrittenem Typ-2-Diabetes (ADVANCE***, VADT***) ist kein Effekt auf harte klinische Endpunkte am Auge belegt (a-t 2008; 39: 73-6 und 2009; 40: 4, 13).7,8

Ähnlich ist es mit den renalen mikrovaskulären Endpunkten: Wie in ADVANCE und im Trend auch in VADT zeigt sich ein signifikanter Effekt der normnahen Blutzuckereinstellung auf die Albuminurie. Ein günstiger Einfluss auf die glomeruläre Filtrationsrate oder die Entwicklung einer terminalen Niereninsuffizienz bleibt dagegen ähnlich wie in den beiden anderen Studien aus.1,7,8 Die geringfügigen positiven Befunde in Neuropathietests in ACCORD decken sich dagegen nicht mit den Ergebnissen in ADVANCE, wo ein nicht näher beschriebener Endpunkt "neue oder verschlechterte Neuropathie" unter der intensiven Therapie numerisch häufiger ist.7

Für die Blutdrucksenkung bei Typ-2-Diabetes ist ein günstiger Effekt auf das Retinopathierisiko nachgewiesen.10 Valide Nutzenbelege für die Senkung innerhalb des normotensiven Bereichs fehlen jedoch (a-t 2010; 41: 35-7). Die negativen Ergebnisse der ACCORD-EYE-Studie zur intensiven Blutdrucksenkung bekräftigen Zweifel am Nutzen dieser Strategie.

Das positive Ergebnis der ACCORD-Eye-Studie zur Fenofibrat-Statin-Kombination ist insofern bemerkenswert, als es in dieselbe Richtung weist wie ein tertiärer Befund aus der FIELD-Studie*, wonach Fenofibrat bei Typ-2-Diabetes die Häufigkeit von Laserkoagulationen wegen Retinopathie mindert.9 Belastbare Nutzenbelege lassen sich aus diesen Ergebnissen jedoch nicht ableiten, da sie beide aus sekundären bzw. tertiären Zielkriterien in primär negativ verlaufenden Studien stammen. Daten zu harten mikrovaskulären Endpunkten am Auge liegen aus der ACCORD-Lipid-Studie zudem nicht vor.

∎   Nach den Ergebnissen der ACCORD-Eye-Studie mindert die normnahe Blutzuckereinstellung auch bei länger bestehendem Typ-2-Diabetes das Risiko der Entwicklung oder Progression einer diabetischen Retinopathie.

∎   Ähnlich wie in ADVANCE und im Trend auch in VADT, die ebenfalls bei fortgeschrittenem Typ-2-Diabetes durchgeführt wurden, senkt die normnahe Einstellung auch in ACCORD die Rate der Albuminurie.

∎   Harte mikrovaskuläre Endpunkte am Auge oder an der Niere wie schwerer Visusverlust oder terminale Niereninsuffizienz bleiben in ACCORD unbeeinflusst. Entsprechende Nutzenbelege fehlen auch in ADVANCE oder VADT. Dies mag an zu kurzer Nachbeobachtungsdauer liegen, beschreibt aber den derzeitigen Kenntnisstand.

∎   Da der Schaden einer intensiven Blutzuckertherapie mit Kombination mehrerer Antidiabetika bei älteren Patienten und solchen mit länger bestehendem Typ-2-Diabetes wegen Übersterblichkeit und erhöhtem Risiko schwerer Hypoglykämien überwiegt, bleibt die Nutzen-Schaden-Bilanz dieser Strategie in dieser Patientengruppe negativ.

 (R = randomisierte Studie, M = Metaanalyse)
R   1ISMAIL-BEIGI, F. et al.: Lancet 2010; online publiziert am 29. Juni 2010
R   2The ACCORD Study Group and ACCORD Eye Study Group: N. Engl. J. Med. 2010; 363: 233-44
3ACCORD Protocol, 5. Jan. 2009 http://www.accordtrial.org/web/public/documents/Protocol%20All%20Chapters.pdf?CFID=465864&CFTOKEN=77918022
R   4Diabetes Control and Complications Trial Research Group: N. Engl. J. Med. 1993; 329: 977-86
R   5OHKUBO, Y. et al.: Diabetes Res. Clin. Pract. 1995; 28: 103-17
R   6UK Prospective Diabetes Study Group: Lancet 1998; 352: 837-53
R   7The ADVANCE Collaborative Group: N. Engl. J. Med. 2008; 358: 2560-72
R   8DUCKWORTH, W. et al.: N. Engl. J. Med. 2009; 360: 129-39
R   9KEECH, A.C. et al.: Lancet 2007; 370: 1687-97
R 10UK Prospective Diabetes Study Group: BMJ 1998; 317: 703-13

*ACCORD = Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes;
BP = Blood Pressure;
UKPDS = United Kingdom Prospective Diabetes Study
**ETDRS = Early Treatment Diabetic Retinopathy Study. Die in ACCORD verwendete modifizierte Skala, mit der der Augenhintergrund beurteilt wird, hat 17 Stufen, von 1 "keine diabetische Retinopathie" bis 17 "schwere proliferative diabetische Retinopathie an beiden Augen".
***ADVANCE = Action in Diabetes and Vascular Disease: Preterax and Diamcron Modified Release Controlled Evaluation; DCCT = Diabetes Control and Complications Trial; Kumamoto: Die Studie wurde an der Universität von Kumamoto in Japan durchgeführt; VADT = Veterans Affairs Diabetes Trial
****Hier und im restlichen Absatz beziehen sich die Angaben auf die Ergebnisse bei Studienende; zu den Ergebnissen beim Stopp der intensiven Blutzuckereinstellung besteht kein wesentlicher Unterschied.

© 2010 arznei-telegramm, publiziert am 16. Juli 2010

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