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                            a-t 2014; 45: 73-5nächster Artikel
Im Blickpunkt

DIE "CHOOSING WISELY"-KAMPAGNE - PRAGMATISCH GEGEN ÜBERVERSORGUNG

Antibiotika bei viralen Infektionen wie akuter Bronchitis oder Röntgenuntersuchungen bei unkomplizierten akuten Kreuzschmerzen sind in der Regel nicht sinnvoll - allerdings Versorgungsrealität. Möglicherweise fühlen sich die Behandler so auf der sicheren Seite, oder sie orientieren sich an Patientenwünschen. Solche Fehlentscheidungen reichen bis zur letzten Lebensphase: Selbst das Sterben wird unnötig schwer, wenn ein implantierter Kardioverter-Defibrillator noch schmerzhafte Stromstöße abgibt.1 All dies greift die in den USA etablierte Kampagne Choosing Wisely auf. Sie stellt die häufigsten bzw. relevantesten Überversorgungen in den Fokus (vgl. Tabelle, Seite 74). Denn überflüssige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen können Patienten schädigen und Geld verschlingen, das dann in anderen Bereichen des Gesundheitswesens fehlt.

Die US-amerikanische Kampagne hat sich rasch zu einem Vorzeigeprojekt entwickelt: Zahlreiche Fachgesellschaften ziehen unter ihrem Dach ohne administrativen Druck am gleichen Strang. Organisiert und gesponsert durch die unabhängige Stiftung American Board of Internal Medicine (ABIM) haben gut zwei Jahre nach Start der Choosing Wisely-Kampagne im April 20122 bereits 58 US-amerikanische Fachgesellschaften für ihr Fachgebiet Top-5-Listen* mit Maßnahmen erarbeitet, bei denen die Nutzen-Evidenz nicht ausreicht bzw. die Nutzen-Schaden-Relation als nicht akzeptabel bewertet wird. Insgesamt werden somit inzwischen mehr als 300 Maßnahmen genannt, die "Ärzte und Patienten hinterfragen sollten". Manche davon sind nicht grundsätzlich falsch, werden aber viel zu häufig verwendet. Jede als Überversorgung eingestufte Maßnahme wird daher kurz erläutert, die Entstehung der Listen beschrieben und inhaltlich durch Literaturzitate belegt. Über http://www.choosingwisely.org stehen alle Do not-Listen für Ärzte und Patienten zur Verfügung. Sie werden durch patientenfreundliche Texte ergänzt, beispielsweise zur sinnvollen Verwendung von Antibiotika oder von bildgebenden Verfahren - entstanden in Zusammenarbeit mit Verbraucherorganisationen.

* Vier der Fachgesellschaften haben Top-10-Listen erstellt, die American Academy of Family Physicians sogar eine Top-15-Liste.

Die Bewertungen von Choosing Wisely können und sollen den Beteiligten die Entscheidung über das Vorgehen nicht abnehmen. Die Kampagne will daher die Diskussion über die in den Fokus gestellten Maßnahmen zwischen Arzt und Patient fördern, damit diese zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen. Im Gespräch soll deutlich werden, dass nicht alles, was machbar ist, der Gesundheit zuträglich ist, und dass Überdiagnose und Übertherapie schaden können. Zur Unterstützung der Gespräche bietet Choosing Wisely Ärzten Kommunikationsmodule an.3


"Do not" - Was Ärzte und Patienten in Frage stellen sollten.* Beispiele aus Choosing Wisely. Link** vgl. a‑t

Antibiotika bei offensichtlich viraler Atemwegsinfektion (Sinusitis, Pharyngitis, Bronchitis) irsb** 2005; 36: 72
Antibiotika bei akuter milder bis mäßiger Sinusitis in den ersten sieben Tagen - außer bei Verschlechterung nach initialer Besserung anda** 2012; 43: 95
Antibiotika für Kinder von 2 bis 12 Jahren mit Otitis media ohne starke Krankheitszeichen, wenn beobachtendes Zuwarten angemessen ist anda** 2011; 42: 17-8
Glukosamin (DONA u.a.) und Chondroitin bei symptomatischer Kniegelenksarthrose hrbr** 2008; 39: 61
Glukokortikoide nach schwerer traumatischer Hirnverletzung oach**  
Routinemäßige antiepileptische Prophylaxe nach ischämischem Schlaganfall - außer nach Auftreten eines Krampfanfalls oach**  
Neuroleptika als Mittel der ersten Wahl zur Therapie von Verhaltensstörungen und psychischen Symptomen der Demenz otta** 2008; 39: 80
Verordnung von Cholinesterasehemmern bei Demenz ohne regelmäßige Prüfung auf kognitiven Nutzen und auf gastrointestinale Störwirkungen otta** 2012; 43: 54-5
Anhaltende oder häufige Einnahme rezeptfreier Analgetika bei Kopfschmerzen ilpi**  
Allgemeines Screening auf Vitamin-D-Mangel ltwe** 2012; 43: 84-6
Bildgebende Diagnostik bei Kreuzschmerzen in den ersten sechs Wochen - außer bei Warnzeichen wie z.B. schwere oder progrediente neurologische Defizite anda**  
Untersuchung des Unterleibes oder andere körperliche Untersuchungen vor Verordnung eines oralen Kontrazeptivums anda**  
Routinemäßiger jährlicher PAP-Test bei Frauen zwischen 30 und 65 Jahren uwie** 2008; 39: 29-38
Screenen von Frauen unter 30 Jahren per HPV-Test auf Zervixkarzinom anda** 2013; 44: 110-1
Routinemäßiges Screening auf Prostatakrebs mit PSA (Prostata-spezifisches Antigen)-Test anda** 2010; 41: 129
Test auf Borreliose bei unspezifischen muskuloskelettalen Symptomen esel** 2014; 45: 65-8
Aktiviertlassen eines implantierten Kardioverter-Defibrillators (ICD), wenn dies nicht mehr dem Versorgungsziel entspricht (z.B. bei absehbarem Tod) ohnh**  
Entfernen Quecksilber-haltiger Amalgamfüllungen aus Zähnen chai**  

* Nähere Erläuterungen zu den genannten Maßnahmen finden Sie unter den angegebenen Links zu den Original-Listen.
** Kurz-URL des arznei-telegramm, bequem zu nutzen über die Auskunftsfunktion "Auflösung a-t Kurz-URL" auf der Startseite für a-t-Abonnenten im Internet. Bei direkter Eingabe in die Adresszeile eines Browsers hängen Sie bitte die unter "Link" genannten vier Buchstaben an die a-t-Kurz-URL-Kennung - http://www.a-turl.de/?k= - an; Beispiel: http://www.a-turl.de/?k=anda.

Die Kampagne hat Vorbildfunktion - in Bezug auf die Beteiligung von fast 60 Fachgesellschaften und mindestens 14 Verbraucherorganisationen mit gemeinsamem Internetportal, aber auch wegen des öffentlichkeitswirksamen pragmatischen Konzeptes ohne finanzielle Eigeninteressen. Es dürfte aktuell keine Gesundheitskampagne geben, die in Fach- und Laienmedien mehr Beachtung erzielt hat.2

Choosing Wisely ist unter gleichem Namen inzwischen auch in Kanada etabliert (derzeit sieben Listen).4 Pendants gibt es darüber hinaus etwa in Italien5 (Mehr ist nicht besser), in der Schweiz6 (smarter medicine) und demnächst auch in Deutschland: Der Arbeitstitel der Initiative des Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM), Gemeinsam klug entscheiden,7 signalisiert die Intention, Patienten stärker einzubeziehen. Und die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) bereitet unter dem Motto Klasse statt Masse eine Zusammenstellung und Priorisierung der wichtigsten überflüssigen Maßnahmen und Negativempfehlungen für den hausärztlichen Bereich vor.8

Viele der Do not-Punkte werden in Deutschland bereits in S3-Leitlinien, in Nationalen VersorgungsLeitlinien oder im IGeL-Monitor thematisiert, ohne dass dort jedoch explizit gefordert wird, die Anwendung mehr oder weniger stark zu reduzieren.9 Die Fokussierung auf die Überversorgung kann daher neuen Schwung in die Verbesserung von Diagnostik und Therapie im Sinne einer evidenzbasierten Medizin bringen. Das angestrebte intensive Patientengespräch steht hierzulande bereits im Patientenrechtegesetz (§ 630 c BGB). Allerdings sind Defizite unverkennbar: Nach einer soeben veröffentlichten Befragung von knapp 1.800 Personen weiß beispielsweise nur jeder Dritte, dass Früherkennungsuntersuchungen auch Risiken bergen.10 Aber auch Ärzte schätzen den Nutzen von Screening-Maßnahmen häufig falsch ein.11

Bei aller grundsätzlichen Zustimmung zu Choosing Wisely gibt es Kritik und Verbesserungsvorschläge. Akzeptanz und Glaubwürdigkeit von Do not-Listen hängen wesentlich von systematisierter und strukturierter Bearbeitung und evidenzbasierter Absicherung ab. Die bei den US-Fachgesellschaften erkennbaren unterschiedlichen Vorgehensweisen sollten - wie auch bei Analogprojekten - vereinheitlicht werden. Auch wird angeregt, andere Beteiligte wie Pharmazeuten und Pflegepersonal einzubeziehen12 sowie auch das Problem tatsächlicher Unterversorgung mit der Top-5-Strategie zu bearbeiten.13

Bislang sieht Choosing Wisely nicht vor, den Erfolg der Kampagne, die keine Druckmittel kennt, selbst zu evaluieren.2 Zu klären bleibt, welche Barrieren dem Abbau von Überversorgung entgegenstehen, vom generellen Misstrauen gegenüber einer von außen herangetragenen Nutzen-Schaden-Abwägung bis hin zu finanziellen Interessenkonflikten. Hierzulande behindern auch etablierte Regelungen im Gesundheitssystem den Abbau von Überversorgung oder fördern diese sogar, etwa Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL), die zwar von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erstattet werden und häufig als unzweckmäßig oder Überversorgung erkannt sind (vgl. a-t 2011; 42: 88-9), aber als von den Patienten privat bezahlte Leistungen finanzielle Anreize für die anbietenden Ärzte darstellen.

∎  Die in den USA gegründete Kampagne Choosing Wisely hat bislang knapp 60 medizinische Fachgesellschaften veranlasst, Top-5-Listen mit diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen zu erstellen, die als überwiegend unnötig und potenziell schädlich bewertet werden.

∎  Die Kampagne will eine intensivierte Kommunikation zwischen Arzt und Patient anregen, um Überversorgung einzudämmen.

∎  Viele der aufgegriffenen Maßnahmen werden auch hierzulande bereits durch klinische Leitlinien oder den IGeL-Monitor negativ bewertet. Bestechend ist jedoch das pragmatische und (fach)öffentlichkeitswirksame Konzept der geballten Information zu Überdiagnose und Übertherapie.

∎  Die inzwischen auch in weiteren Ländern etablierte Kampagne kann auch hierzulande dazu beitragen, Diagnostik und Therapie von überflüssigem und potenziell schädlichem Ballast zu befreien.

1 Gute Pillen - Schlechte Pillen 2012 (Nr. 4): 9
2 WOLFSON, D. et al.: Acad. Med. 2014; 89: 990-5
3 Choosing Wisely: Physician Communication Modules
http://www.a-turl.de/?k=irfu
4 Choosing Wisely Canada; http://www.a-turl.de/?k=emdi
5 BOBBIO, M. et al.: G. Ital. Cardiol. (Rome) 2014; 15: 244-52 (Abstr.)
6 SGIM u.a.: smarter medicine, Flyer, Mai 2014; http://www.a-turl.de/?k=eisg
7 DNEbM Initiative: "Gemeinsam klug entscheiden", Stand 6. Aug. 2014
http://www.a-turl.de/?k=ersc
8 AWMF: Angemeldetes Leitlinienvorhaben der DEGAM, 7. Juli 2014
9 STRECH, D.: Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesund. wesen 2013; 107: 156-63
10 Bertelsmann Stiftung: Pressemitteilung vom 14. Aug. 2014
http://www.a-turl.de/?k=attg
11 GIGERENZER, G.: BMJ 2013; 347; f5151 (2 Seiten)
12 GRADY, D. et al.: JAMA Intern. Med. 2014; 174: 498-9
13 FRÜHWALD, T.: HTA-Newsletter, Juni 2013, Nr. 118, Seite 1

© 2014 arznei-telegramm, publiziert am 22. August 2014

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