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Im Blickpunkt

LIEFERENGPÄSSE OHNE ENDE
... Wie kommen wir da bloß wieder raus?

Zu Lieferdefiziten bei Original-Arzneimitteln siehe e a-t 12/2022a

Lieferengpässe und Lieferabrisse gehören inzwischen zum Alltag – in Arztpraxen und vor allem in Apotheken. Das muss doch in einer Industrienation wie Deutschland – einst als „Apotheke der Welt“ gerühmt – in den Griff zu bekommen sein, sollte man glauben. Die über Jahre entstandenen Ursachen sind jedoch vielfältig (a-t 2011; 42: 93-5, 2015; 46: 81-2 u.a.). Oft liegt das Streben nach maximalen Kosteneinsparungen zu Grunde, aber beispielsweise auch Fehleinschätzungen.

Die offizielle Liste veröffentlichter Engpassmeldungen, die auf freiwilligen Berichten von Pharmaanbietern beruht und somit unvollständig ist, nennt derzeit mehr als 300 Lieferdefizite.1 Betroffen sind meist patentfreie Arzneimittel wie Generika, die vor allem der Grundversorgung mit preiswerten Arzneimitteln dienen. Deren Erstattungskosten zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind überwiegend reguliert, seit 1989 durch Festbeträge und seit 2007 auch durch Rabattverträge. Auf diese Weise soll die GKV jährlich 8 Milliarden sowie 5 Mrd. Euro einsparen2,3 – und das angeblich ohne negative Folgen für die Versorgungsqualität.4,5 Eine unabhängige Kosten-Nutzen-Analyse unter Berücksichtigung potenzieller Folgeeffekte dieser Maßnahmen ist uns allerdings nicht bekannt. Von Anfang an sind Rabattverträge streng geheim (a-t 2008; 39: 1-3 und 2016; 47: 61-2). Auswüchse wie die mit dem Indien-basierten Generika-Anbieter Glenmark vereinbarten Rabatte von mehr als 99% auf den Herstellerpreis, die nicht mit einer seriösen Kalkulation vereinbar sind, gelangten nur zufällig durch Kommunikationsfehler an die Öffentlichkeit (a-t 2021; 52: 78-9).

Der billigste Preis als ausschließliches Kriterium hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Generikaproduktion überwiegend in Länder mit den geringsten Herstellungskosten ausgelagert worden ist. Dass hierzulande die Produktion heruntergefahren wurde und die Versorgung mit Generika heute weitgehend am Tropf von Firmen in Asien hängt, ist die logische Folge. In Indien und China sind hingegen mit staatlicher Förderung riesige Herstellungssanlagen entstanden. Diese bedienen mit hoher Auslastung, geringen behördlichen Auflagen und Kontrollen in Bezug auf Produktion und Umweltschutz sowie bescheidenen Löhnen den Weltmarkt zu Dumpingpreisen (a-t 2019; 50: 110-2), die im europäischen Raum nicht realisiert werden können. Die Abhängigkeit von Produzenten in Asien wird verschleiert, da die tatsächlichen Hersteller der in Arzneimitteln enthaltenen Wirkstoffe bis heute nicht in den Produktinformationen deklariert werden müssen (vgl. a-t 1997; Nr. 9: 93-4; e a-t 4/2020a).

Bedingt durch die Produktion in Asien werden lange und störanfällige Lieferwege in Kauf genommen und damit verbundene Unwägbarkeiten ignoriert, beispielsweise Transportbehinderungen durch Umwelteinflüsse, Pandemien und damit verbundene Exporteinschränkungen (z.B. wegen Eigenbedarfs zu Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie in Indien [e a-t 3/2020b], Lockdown in China u.a.) oder politische Spannungen wie der Konflikt zwischen China und Taiwan. Analog zum Gasdebakel können gezielte Liefereinschränkungen, aber auch drastische Verteuerungen nicht ausgeschlossen werden.

Da zudem viele Anbieter beim selben Lohnhersteller einkaufen, multiplizieren sich hierzulande die Folgen von Fertigungsproblemen wie Produktionsstillstand oder von Mängeln wie Verunreinigungen z.B. mit kanzerogenen Nitrosaminen, die zu Rückruflawinen und Versorgungsabrissen bei Sartanen geführt haben (a-t 2018; 49: 65-6, 2019; 50: 32 u.a.).

Der Einkauf möglichst billiger Wirk- und Hilfsstoffe kann nicht verhindern, dass immer mehr Anbieter aus Teilen des Generikageschäftes aussteigen. Die wachsenden Kosten durch Preiserhöhungen bei Zulieferern, Energie, Logistik u.a. können nicht aufgefangen werden, da Festbeträge jahre- oder gar jahrzehntelang nicht angepasst wurden und die Niedrigpreise in Rabattverträgen für zwei Jahre festgeschrieben sind. Der Anbieterschwund führt zu Oligopol- oder Monopolbildungen – Konstellationen, die zu Lieferdefiziten prädestinieren. So sind Anfang 2022 bedrohliche Versorgungsengpässe beim unentbehrlichen Antiöstrogen Tamoxifen entstanden, als einer der drei relevanten Anbieter wegen Nichtverfügbarkeit eines funktionellen Hilfsstoffes ausgefallen ist und die beiden anderen das entstandene Defizit kurzfristig nicht ausgleichen konnten (a-t 2022; 53: 11-2). Der formal ausgerufene Versorgungsmangel ermöglichte schließlich den Import von Tamoxifen aus anderen europäischen Ländern – allerdings zu deutlich über den hiesigen Festbeträgen liegenden Kosten, da in diesen Ländern die Preise weniger stark reguliert werden (a-t 2022; 53: 40).

Saftzubereitungen, insbesondere Kindersäfte, sind besonders anfällig für Lieferdefizite. Da die Produktion aufwändiger und teurer ist als die von Tabletten und die Festbeträge niedrig liegen, werden Säfte für Firmen zunehmend kommerziell uninteressant. Insbesondere Fiebersäfte sind schon seit Monaten nur noch unzureichend lieferbar (a-t 2022; 53: 31-2). Parazetamol-Saft zu 40 mg/ml wird nur noch von zwei Firmen angeboten – von Bene-Arzneimittel und Ratiopharm – und, nachdem andere Anbieter sich aus wirtschaftlichen Gründen zurückgezogen haben, deutlich über dem aktuellen und auch über dem ab 2023 geltenden6 gering erhöhten Festbetrag. Durch Verlagerung der Nachfrage auf Ibuprofen-Säfte ist dann auch die Versorgung mit diesen Zubereitungen zusammengebrochen. Zur Entlastung bietet beispielsweise die AOK an, bei Rezepten über Ibuprofen- und Parazetamol-Säfte für Kinder in der derzeitigen Erkältungssaison die anfallenden Mehrkosten oberhalb des Festbetrags zu übernehmen7 – sofern die Säfte erhältlich sind.

Auch Antibiotika-Säfte sind knapp oder fehlen. Flüssige Zubereitungen mit Penicillin V sind derzeit nicht lieferbar, zum Teil auch Tabletten. Lieferdefizite von Amoxicillin-Säften waren schon vor Jahren absehbar8 und scheinen sich jetzt zu einem anhaltenden Problem auszuweiten. Wegen des auch in Frankreich erheblichen Amoxicillin-Mangels versucht die französische Arzneimittelagentur ANSM, die Anwendung des Antibiotikums durch Hinweise auf sinnvolle Indikationen einzudämmen.9

Einige Lieferdefizite beruhen auf Fehlplanungen der pharmazeutischen Industrie, die unter anderem auf massive Nachfrageschwankungen im Selbstmedikationsbereich (OTC-Arzneimittel) im Zuge der COVID-19-Pandemie zurückgeführt werden. Einer zunächst extrem hohen Nachfrage von Präparaten gegen Atemwegserkrankungen folgte zunächst ein ungewöhnlich lange anhaltendes Nachfragetief. Anschließend haben es Hersteller verpasst, die Produktion rechtzeitig wieder hochzufahren.10 Unerwartet labile Lieferketten auch für Hilfsmittel wie Filter, Reinigungsmittel und Packmaterialien sind hinzugekommen.10,11

Eine grundlegende Verbesserung der Lieferfähigkeit preisregulierter Generika setzt voraus, dass Politik, Krankenkassen und Hersteller gemeinsam Lösungsstrategien entwickeln. Angesichts der nicht endenden Lieferdefizite, die durch Rückzug von Firmen aus Teilen des Generikamarktes verstärkt werden, und bedrohlich werdender geopolitischer Entwicklungen sollte dies so rasch wie möglich geschehen. In Nachbarländern sind bereits Projekte angelaufen: So wird in Frankreich derzeit mit staatlichen Subventionen eine Produktionsstätte aufgebaut, die Europa mit Parazetamol versorgen soll.12,13 Wichtig ist zudem, die derzeit noch vorhandenen Standorte in Europa zu erhalten und ggf. zu modernisieren, um effizient, energiesparend und nachhaltig mit geringem CO2-Fußabdruck (vgl. a-t 2021; 52: 81-3) produzieren zu können. So wird aktuell mit staatlicher Förderung in Österreich die einzige in Europa noch vorhandene Anlage, in der Penizilline wie Amoxicillin bis hin zum Fertigarzneimittel produziert werden, für den Weltmarkt ertüchtigt.12,14

Eine generelle Rückverlagerung der Produktion von Grund- und Wirkstoffen nach Europa ist hingegen nicht realistisch. Unsere Fragen vor gut zwei Jahren nach Strategien und Kostenabschätzungen für die Rückverlagerung versorgungsrelevanter Arzneimittel an die Beteiligten blieben weitgehend ohne befriedigende Antwort (e a-t 4/2020a). Inzwischen gibt es immerhin Signale aus dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), die erkennen lassen, dass man sich dort über die Notwendigkeit von Veränderungen der gesetzlichen Regelungen im Klaren ist.15 Strategien zur besseren Erfassung und Verwaltung der Defizite bis hin zur Verpflichtung, die Lagerhaltung von Medikamenten auszuweiten, greifen allerdings nicht an den Ursachen der Lieferdefizite an.

Ein Ausweg aus dem Lieferdefizit-Dilemma erscheint nur möglich, wenn die derzeitigen Rahmenbedingungen für die Vergabekriterien von Rabattverträgen und andere Steuerungsinstrumente grundsätzlich reformiert werden und Kriterien aufgenommen werden, die tatsächlich zur Sicherung der Lieferzuverlässigkeit versorgungsrelevanter Arzneimittel beitragen. Auf Konkretisierung der bislang vom BMG nur ansatzweise angekündigten gesetzlichen Regelungen auch in Bezug auf Diversifizierung und Produktion in Europa darf man gespannt sein. Die Lieferanten der Wirkstoffe sowie die Lieferwege müssen transparent gemacht werden. Obligatorische Vergabe von Rabattverträgen an mehrere voneinander unabhängige Anbieter anstelle von Exklusivverträgen mit nur einem Hersteller kann dazu beitragen, die Versorgungssituation zu entspannen. Relativ kurzfristig ist eine gewisse Entlastung möglich, wenn bei Ausschreibungen für Rabattverträge mindestens zwei voneinander unabhängige Wirkstoffproduzenten nachgewiesen werden müssten.

Wesentlich erscheint, dass Krankenkassen und Politik akzeptieren, dass ein Mehr an Versorgungssicherheit mit Verteuerungen einhergeht, insbesondere, wenn die Produktion wichtiger Arzneimittel in Europa gestärkt und modernisiert werden soll. Der lange Weg dorthin wäre leichter zu finanzieren, wenn es endlich gelänge, exorbitante Hochpreise von neuen Arzneimitteln effektiv zu begrenzen.

1PharmNet.Bund, BfArM: Veröffentlichte Lieferengpassmeldungen, Stand 14. Nov. 2022; https://a-turl.de/e322
2GKV-Spitzenverband: Pressemitteilung vom 19. Juni 2019; https://a-turl.de/it8t
3ABDA: Pressemitteilung vom 29. März 2021; https://a-turl.de/qchf
4G-BA: Pressemitteilung vom 14. Sept. 2017; https://a-turl.de/kgm7
5VOGLER, S., FISCHER, S.: Lieferengpässe bei Arzneimitteln: Internationale Evidenz und Empfehlungen für Deutschland. Gutachten Febr. 2020; https://a-turl.de/apqa
6GKV-Spitzenverband: Bekanntmachung von Beschlüssen vom 7. Nov. 2022, über https://a-turl.de/4rzz
7AOK: Pressemitteilung vom 8. Dez. 2022; https://a-turl.de/djdb
8RICHTER-KUHLMANN, E.: Dt. Ärztebl. 2017; 114: A415
9ANSM: Mitteilung vom 18. Nov. 2022; https://a-turl.de/begk
10CIULLI, C., HOLLSTEIN, P.: Apotheke adhoc vom 27. Juli 2022; https://a-turl.de/c2xn
11HOLLSTEIN, P.: Apotheke adhoc vom 28. Okt. 2022; https://a-turl.de/3tqa
12GRIMMER, C.: BRZY; 7. Nov. 2022; https://a-turl.de/sgv4
13Pharm. Ztg. 2022; 167: 2204
14Pro Generika: Zahl des Monats, Okt. 2022; https://a-turl.de/ut5t
15BMG: Schreiben vom 25. Nov. 2022

© 2022 arznei-telegramm, publiziert am 16. Dezember 2022

Autor: Redaktion arznei-telegramm - Wer wir sind und wie wir arbeiten

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