Erythromycin (ERYTHROCIN u.a.) steht seit mehr als 40 Jahren zur Verfügung und gilt als Standardantibiotikum zur Behandlung von Infektionen
der Atemwege und des HNO-Bereichs, zur Keimsanierung bei Keuchhusten und als Reservemittel bei Penizillinallergie (a-t 2
[1992], 18). Seit Beginn der 90er Jahre wird die Riege der Makrolid-Antibiotika um einige Abkömmlinge bereichert. Während die älteren
Varianten Josamycin (WILPRAFEN) und Spiramycin (ROVAMYCINE, SELECTOMYCIN) hinsichtlich ihrer Verordnungshäufigkeit keine große Rolle spielen,
gewinnen die neueren Abkömmlinge Clarithromycin (KLACID u.a.), Roxithromycin (RULID) und Azithromycin (ZITHROMAX) an Bedeutung. Mit 2,8 Millionen
Verordnungen liegt RULID 1996 an der Spitze aller in deutschen Apotheken abgegebenen Antibiotika. Auf dem zweiten und dritten Platz folgen KLACID und
ZITHROMAX (2,2 bzw. 1,7 Mio. Verordnungen), die im Vergleich zum Vorjahr um 10 % bzw. 40 % häufiger rezeptiert wurden. Rechtfertigen die Eigenschaften
der neuen Abkömmlinge den zunehmenden Verbrauch?
WIRKUNGSWEISE UND KEIMSPEKTRUM: Alle Makrolid-Antibiotika hemmen die bakterielle Proteinsynthese durch reversible Bindung an die 50S-
Untereinheit der Ribosomen. Sie wirken primär bakteriostatisch, in hohen Konzentrationen bei empfindlichen Keimen auch bakterizid.1 Erythromycin
wirkt gut gegen gram-positive Erreger wie Streptokokken und Pneumokokken. Penizillin-resistente Pneumokokkenstämme, die z. T. auch gegenüber
Makroliden unempfindlich sind, bleiben in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit unter 3% selten. Ein in Finnland vorübergehend beobachteter
Anstieg der Resistenzrate von A-Streptokokken (a-t 4 [1992], 39) ging nach zurückhaltender Verordnung von
Makroliden wieder zurück.2 Aufgrund hoher Gewebe- und Zellkonzentrationen eignet sich Erythromycin zudem für die Behandlung
intrazellulär wachsender Keime wie Legionellen, Chlamydien und Mykoplasmen sowie bei Bordetella pertussis. Die nach In-vitro-Studien bei Hämophilus
erforderlichen hohen Konzentrationen von Erythromycin werden in der Praxis oft nicht erreicht, ohne dass sich dies in schlechterem klinischen Erfolg bemerkbar
machen soll.3 Einer unserer Berater hält die Wirksamkeit allerdings für nicht ausreichend. Weniger zuverlässig ist die Wirkung gegen
Staphylokokken. Die meisten gramnegativen Stäbchen wie E. coli oder Klebsiellen sind unempfindlich, da Makrolide ihre Bakterienwand nicht ausreichend
durchdringen können.1
Die neuen Makrolide gleichen in ihrem Wirkspektrum weitgehend dem Erythromycin.4 Clarithromycin und Azithromycin sind allerdings effektiver gegen
Mycobacterium avium (a-t 10 [1996], 95), z.B. bei Patienten mit erworbenem Immundefektsyndrom (AIDS). Nach In-
vitro-Befunden besitzt Azithromycin einen Vorteil bei Hämophilus.1 Innerhalb der Makrolidgruppe besteht meist vollständige
Kreuzresistenz.
EIGENSCHAFTEN: Erythromycin wird im sauren Milieu inaktiviert und muss daher in magensaftresistenter Zubereitung oder als säurestabiler Ester
eingenommen werden. Die Bioverfügbarkeit liegt zwischen 25% und 50%. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit von 1,5 bis 3 Stunden ist es drei- bis viermal
täglich anzuwenden.
Die neueren Makrolide werden nicht durch die Magensäure angegriffen und besitzen eine höhere und konstantere Bioverfügbarkeit sowie
längere Halbwertszeiten (Tabelle). Clarithromycin muss zweimal, Roxithromycin ein- bis zweimal täglich eingenommen werden. Bei Azithromycin, das aus
den Geweben mit einer Halbwertszeit von zwei bis vier Tagen extrem langsam ausgeschieden wird, reicht eine tägliche Einmaldosierung bei verkürzter
Therapiedauer von drei (bis fünf) Tagen.
KLINISCHE ANWENDUNGEN: Klinische Studien mit neueren Makroliden sind häufig in Supplements veröffentlicht und von nur
mäßiger Qualität. Für Roxithromycin, das in den USA nicht zugelassen ist, existieren deutlich weniger Daten als für die anderen
Abkömmlinge.
Bei Streptokokkenpharyngitis ist Penicillin V (MEGACILLIN ORAL u.a.) nach wie vor Mittel der ersten Wahl
(a-t 2 [1996], 18). Patienten mit Penizillinallergie erhalten alternativ Erythromycin. Roxithromycin wirkt zwar klinisch
ebenso gut wie Erythromycin, beseitigt den Keim jedoch nur bei einem Drittel der Patienten, was im Hinblick auf das als Folgeerkrankung drohende rheumatische
Fieber bedenklich erscheint (a-t 2 [1992], 18).5 Auch mit Clarithromycin und Azithromycin lassen sich gute
klinische Heilungsraten erzielen.6,7 Die bakteriologische Sanierung unter Azithromycin bleibt in einer großen Studie jedoch ebenfalls
unbefriedigend.6 Reservemakrolide der Wahl: Erythromycin/Clarithromycin.
Während die akute Bronchitis in aller Regel viral bedingt ist und keiner antibiotischen Therapie bedarf, spielen bei Exazerbationen chronischer
Bronchitiden oft Bakterien wie Hämophilus influenzae eine Rolle (a-t 12 [1994], 115). Neben Amoxicillin
(AMOXYPEN u.a.) und oralen Cephalosporinen sind auch alle Makrolide in vielen kleineren Untersuchungen bei dieser Indikation überprüft und bringen
gleichwertige Ergebnisse.1,8 Obwohl Azithromycin nach In-vitro-Daten besser als andere Makrolide gegen Hämophilus wirken soll, hat es klinisch
keine Vorteile.9 Mittel der Wahl bleibt unseres Erachtens Amoxicillin. Bei Penizillinallergie kommen ein Cephalosporin (cave: Kreuzallergie) oder ein Makrolid
wie Erythromycin oder Azithromycin in Betracht.
Auch bei Sinusitis (a-t 3 [1996], 28) und Otitis media (a-t 12
[1992], 122) wirken Amoxicillin, orale Cephalosporine und Makrolide, ohne dass für eines der neuen Mittel ein entscheidender Vorteil bezüglich der
Heilungsraten besteht.1,10 Die Verwendung von Antibiotika bei akuter Mittelohrentzündung ist oft entbehrlich (a-t 6 [1997], 70). Mittel der Wahl und Reserve wie bei Bronchitis.
Ambulant erworbene Pneumonien werden wegen des oft fehlenden Keimnachweises in aller Regel empirisch behandelt. Aufgrund guter Wirkung im
grampositiven Bereich sowie gegen Legionellen, Chlamydien und Mycoplasmen, die 5% bis 15% dieser Lungenentzündungen verursachen, ist Erythromycin bei
unter 60-jährigen Patienten ohne Begleiterkrankungen Mittel der Wahl.11 Eine therapeutische Überlegenheit der neueren Makrolide gibt es
nicht.1,4,12 Wegen niedriger Serumspiegel wird bei Verdacht auf Pneumokokken-Pneumonie mit Bakteriämie vor Anwendung von Azithromycin
gewarnt.1 Makrolid der Wahl: Erythromycin.
Bei Keuchhusten wird Erythromycin zur Keimsanierung empfohlen. Nach In-vitro Daten sind neuere Makrolide ebenfalls wirksam. In der einzigen
veröffentlichten Untersuchung mit 17 Patienten eliminieren Azithromycin und Clarithromycin den Keim vollständig.13 Makrolid der Wahl:
Erythromycin.
Die durch Chlamydia trachomatis bedingte nicht gonorrhoische Urethritis und Cervicitis wird üblicherweise über eine Woche mit Doxycyclin
(SUPRACYCLIN u.a.) behandelt. Hier wirkt eine Einmaldosis von 1 g Azithromycin ebenso gut (a-t 6 [1995],
59).14 Die Eradikationsrate liegt bei annähernd 100%. Die einfachere Einnahme und geringeren Compliance-Probleme werden allerdings teuer
bezahlt: Die Therapiekosten liegen um ein Vielfaches höher als mit Doxycyclin (Ausnahme: VIBRAMYCIN N).
Bei Gonorrhoe hingegen wirkt einmal 1 g Azithromycin weniger zuverlässig als 250 mg Ceftriaxon (ROCEPHIN) i.m. Die doppelte Dosis ist effektiver,
verursacht jedoch bei einem Drittel der Patienten Magen-Darm-Beschwerden.1,15 Reservemakrolid der Wahl: Azithromycin.
Patienten mit erworbenem Immundefektsyndrom (AIDS) infizieren sich besonders im Spätstadium oft mit atypischen Mykobakterien wie M. avium. Um
schnelle Resistenzentwicklung zu vermeiden, werden mindestens zwei, besser drei Antibiotika kombiniert. Mittel der Wahl zur Therapie ist Clarithromycin.
Zusätzlich werden häufig Ethambutol (MYAMBUTOL u.a.) und Rifabutin (MYCOBUTIN) gewählt. Weniger Erfahrungen liegen für Azithromycin
vor. Beide Makrolide eignen sich zudem zur Vorbeugung. Mit der Entwicklung unempfindlicher Erreger ist jedoch zu rechnen.16,17 Mittel der Wahl zur
Prophylaxe bleibt derzeit Rifabutin (a-t 10 [1996], 95). Reservemakrolide der Wahl zur Prophylaxe:
Clarithromycin/Azithromycin.
Bakterielle Infektionen der Haut oder der Weichteile sind häufig durch Streptokokken und Staphylokokken verursacht. Mittel der Wahl sind (ggf.
penizillinasefeste) Penizilline. Bei Unverträglichkeit kommt Erythromycin in Betracht. Neue Makrolide wirken möglicherweise gleich effektiv. Ihr Nutzen ist
jedoch wenig durch klinische Untersuchungen belegt. Roxithromycin schneidet in einer Untersuchung bei Erysipel gleich gut ab wie Penizillin.18
Azithromycin und Clarithromycin wirken bei Kindern mit Haut- und Weichteilinfektionen ebenso gut wie penizillinasefeste Penizilline oder orale
Cephalosporine.19,20 Reservemakrolide der Wahl: Erythromycin/Azithromycin.
Die Besiedlung mit Helicobacter pylori gilt als häufigste Ursache des peptischen Ulkus. Zur Eradikation wird die kombinierte Einnahme eines
Säureblockers mit zwei Antibiotika empfohlen (a-t 1 [1996], 13). Den größten Erprobungsgrad besitzt
Clarithromycin. Für Roxithromycin und Azithromycin existieren weniger Daten. Zweimal 250 mg Clarithromycin pro Tag reichen wahrscheinlich aus.21,22
Makrolid der Wahl: Clarithromycin.
Die "Chlamydien-Hypothese" in Zusammenhang mit der koronaren Herzerkrankung (a-t 8 [1997],
81) ist bisher zu wenig belegt, als dass sich bereits therapeutische Konsequenzen ergeben. Klinische Vergleichsstudien sind abzuwarten.
UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN: Unangenehme Begleiterscheinungen der Makrolide sind Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe oder
Durchfälle, die je nach Dosis unter Erythromycin bei 5% bis 30% der Patienten auftreten und innerhalb von 48 Stunden nach Absetzen wieder
abklingen.23 Nach den Erfahrungen eines unserer Berater lassen sie sich durch Einnahme in flüssiger Form (Granulat, Saft) vermindern. Unter den
neueren Abkömmlingen kommen Magen-Darm-Störungen seltener vor (bis 10%).23
Nach längerer Therapiedauer - in der Regel nach 10 bis 14 Tagen, bei Reexposition aber auch früher - verursacht Erythromycin bei 2% bis 4%
cholestatische Leberschäden. Unter den neuen Makroliden werden reversible Leberfunktionsstörungen einschließlich Erhöhung der
Transaminasen bei bis zu 5% der Patienten beschrieben sowie selten Hepatitis und cholestatischer Ikterus (a-t 6 [1995],
67).23,24 In Verbindung mit Clarithromycin sind letale Verläufe bekannt.25
QT-Verlängerungen im EKG kommen vor allem nach intravenöser, selten auch nach oraler Anwendung von Erythromycin vor und können schwere
Arrhythmien (Torsade de pointes) auslösen (a-t 4 [1995], 48).26,27 Besonders gefährdet sind
Patienten mit bestehendem QT-Syndrom, Herz- oder Lebererkrankungen, Elektrolytstörungen (z.B. Kaliummangel) und Komedikation mit Arzneimitteln, die selbst
das QT-Intervall verlängern (a-t 6 [1996], 60) bzw. mit dem Makrolid um den Abbau in der Leber konkurrieren.
Auch unter Clarithromycin sind Herzrhythmusstörungen besonders bei bestehender QT-Verlängerung beschrieben, unter Azithromycin Torsade de pointes
und Herzinfarkt bei einem Patienten mit anamnestisch bekannten Arrhythmien.25,28 Der WHO und der neuseeländischen Gesundheitsbehörde
liegen mehrere Berichte über Herzstillstand mit Kammerflimmern, Tachykardie u.a. in Verbindung mit Roxithromycin vor,29 das ebenfalls das QT-
Intervall verlängern kann.30
Alle Makrolide beeinträchtigen bisweilen Geschmack, Geruch oder das Gehör bis hin zum Verlust der Empfindung. Auffällig häufig scheint
Clarithromycin den Geschmack zu stören (3%).28 Unter längerer Behandlung von Mycobacterium avium mit Azithromycin erleiden 3 von 21 Patienten eine
Einschränkung des Hörvermögens.31 ZNS-Störungen inklusive Halluzinationen werden ebenfalls unter allen Makroliden beobachtet
(a-t 4 [1996], 39).
In der Schwangerschaft und Stillzeit liegen für die neueren Makrolide noch keine ausreichenden Erfahrungen vor. Erythromycin gilt hier als "sicher".
Beim gestillten Neugeborenen können Diarrhoe, Befall mit Sprosspilzen oder Sensibilisierung auftreten.
INTERAKTIONEN: Erythromycin beeinflusst das Zytochrom-P450-System in der Leber und behindert dadurch den oxidativen Abbau anderer Arzneimittel wie
Theophyllin (SOLOSIN u.a.), Carbamazepin (TEGRETAL u.a.) oder Antikoagulantien wie Phenprocoumon (MARCUMAR u.a.), deren Dosis oft gesenkt werden
muss. Bei gleichzeitiger Einnahme mit Astemizol (HISMANAL) oder Terfenadin (TELDANE u.a.) werden lebensbedrohliche ventrikuläre Arrhythmien beschrieben
(a-t 1 [1997], 16), so dass sich diese Kombinationen verbieten. Clarithromycin beeinflusst Zytochrom P450 in
vergleichbarem Ausmaß.25 Unter Komedikation mit dem Neuroleptikum Pimozid (ORAP u.a.) starben unlängst zwei Menschen (a-t 11 [1996], 116). Bei Roxithromycin scheinen Wechselwirkungen, soweit untersucht, seltener bzw. schwächer
ausgeprägt zu sein. Vor allem in Verbindung mit Azithromycin sind bisher sehr wenige Interaktionen beschrieben.23 Wegen geringerer Erfahrungen ist
jedoch Vorsicht geboten.4 Aufgrund einzelner Berichte32 ist eine Wechselwirkung von Azithromycin mit Terfenadin unseres Erachtens nicht
auszuschließen.
Makrolide erhöhen bei etwa 10% der Patienten die Aufnahme von Digoxin (LANICOR u.a.) aus dem Darm und dadurch den Plasmaspiegel des Herzglykosids.
Bei gleichzeitiger Anwendung von Erythromycin oder Clarithromycin mit Ergotamin- bzw. Dihydroergotamin-haltigen Mitteln (MIGREXA, DIHYDERGOT u.a.) kommen
Durchblutungsstörungen vor allem an Fingern und Zehen vor. Die Kombination mit allen Makroliden soll daher unterbleiben.
FAZIT: Bei der Behandlung bakteriell bedingter Erkrankungen der Atemwege, des HNO-Bereichs und des Urogenitaltrakts sind die neueren Makrolide
Clarithromycin (KLACID u.a.), Roxithromycin (RULID) und Azithromycin (ZITHROMAX) dem gut erprobten Erythromycin (ERYTHROCIN u.a.) bzw. anderen etablierten
Antibiotika therapeutisch nicht überlegen. Ihre Vorteile gegenüber Erythromycin liegen in der selteneren Einnahme und deutlich besseren Magen-Darm-
Verträglichkeit.
Azithromycin stellt eine - auch preislich akzeptable - Alternative für die Patienten dar, die Erythromycin nicht vertragen oder mit der häufigen Einnahme
überfordert sind. Die Möglichkeit einer drei- bis fünftägigen Behandlung kann sich positiv auf die Compliance auswirken. Der deutsche
Marktführer Roxithromycin, der ebenfalls einmal täglich eingenommen werden kann, spielt international eine geringere Rolle. Es existieren vergleichsweise
wenige Daten. Das teure Clarithromycin kommt u.E. nur bei Sonderindikationen wie Eradikation von Helicobacter pylori oder Behandlung von Mycobacterium avium
in Betracht.
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